Antiker Kleiderschrank
Dieses Stück hat ohne Frage die krasseste Geschichte in meiner Sammlung, es wurde mir von einem Freund gebracht, der von meinem Hobby wusste und das Möbel auf dem Sperrmüll fand.
Es war wurmzerfressen, an allen Kanten aus dem Leim gegangen (wohl aus dem Fenster geworfen worden), teilweise eingerissen, ein Fuß fehlte und sämtliche Metallteile waren vollkommen verrostet. Zeitlebens hatte der Schrank keinerlei Behandlung mit Pflege oder Farbe erfahren, das Holz war absolut roh und unbehandelt.
Der Vorteil dieses Zustandes: Der Bahnaufkleber der "Königlich Württembergischen Eisenbahnen", der einmal bei einem Versand angebracht wurde, war unvollständig entfernt und teilweise noch lesbar. Ein Datum war darauf vermerkt, er stammt von 1911. Das passt, denn unter diesem Namen wurden bis 1920 Strecken im heutigen Baden-Württemberg betrieben. Sagt Wiki. Wow!
Selbst wenn dies einmal der Erstversand vom Zimmermann zum Kunden war, ist das Stück 100 Jahre alt - falls es später aus anderen Gründen verschickt wurde, kann es auch gut und gerne noch 20-30 Jahre älter sein. Ein echtes Prachtstück, das alle Merkmale dieser Zeit aufweist: Zweiteiliger Korpus, hinten zusammengesteckt, Türen ohne Bänder, stattdessen mit Stift und Öse befestigt, Sockel und Kranz. Trotz dieser Merkmale handelt es sich um eine sehr schlichte Ausführung, auf Verzierungen wurde mit Ausnahme dreier Ziernuten und einer kleinen Holzrosette an jeder Seite vollständig verzichtet.
Astlöcher und Risse waren verspachtelt - in Anbetracht des geschrumpften und nahezu versteinerten Zustandes wohl bereits vom Hersteller. Auch das Schloss und die Beschläge sind absolut schlicht und ohne jede Verzierung. Erhalten waren sie jedoch alle.
Gut, das Stück erreichte mich mitten im Umzug und ich gebe zu, dass ich dem bitteren Leidensweg des Schrankes erstmal zwei Jahre Garagenlagerung hinzugefügt habe. Dann aber war seine Zeit gekommen und er war an der Reihe.
Zunächst einmal habe ich den gesamten Korpus abgeschliffen, um verschiedene Verfärbungen, Verschmutzungen und auch den übermäßig angebrachten Spachtel an den Aststellen zu entfernen. Das brachte eine einheitliche Farbe zum Vorschein und erlaubte einen besseren Blick auf die vielen Beschädigungen.
Im nächsten Schritt habe ich alle Schadstellen und Risse zunächst weiter gespreizt, um sie mit Leim füllen zu können - dann unter Druck verleimt und beigeschliffen. Am Ende waren die beiden Korpusteile wieder stabil und intakt. Nun kamen alle Zierleisten ab, weil sie ansonsten nicht restlos geschliffen werden konnten - einige lösten sich trotz scharfer Beitel nicht an der Stelle der Verleimung, sondern an der des intensivsten Wurmbefalls - es sah darunter aus wie in einem Labyrinth. Nach dem Schliff wurden alle Teile wieder angebracht, unter die Zierleisten kam aber zunächst ein Anstrich mit Holzwurmmittel.
Alle Metallteile wurden mit meinem Spezialton behandelt, der komplette Schrank mit Holzwurmmittel und einer Nadelholz-Imprägnierung gestrichen. Jede Form von Flüssigkeit hat er gierig aufgesogen, vor allem den abschließenden Flüssigwachsanstrich musste ich mehrfach aufbringen, bevor überhaupt ein Effekt an der Oberfläche erkennbar wurde.
Das einzig fehlende Teil war der linke Fuß des Schrankes - wohl auch der Grund für die Entsorgung durch den Vorbesitzer. Ich habe einige Reststücke Leimholz zusammengeleimt und die Form des vorhandenen Fußes grob auf dem so entstandenen Klotz aufgezeichnet. In der Drehbank entstand dann der Fuß auf dem Bild. Er ist im Vergleich zum Original nicht wirklich gelungen, aber es darf durchaus auffallen, dass es kein Original ist.
Der Arbeitsaufwand zur Wiederherstellung dieses Stückes war beträchtlich, wenn auch die Kosten abgesehen vom Materialverbrauch gleich Null waren. Als Lohn haben wir aber nun ein weiteres sehr altes Stück in unserer Sammlung, auf das wir sehr stolz sind. Die Authentizität ist aufgeklebt, den Aufkleber habe ich beim Schleifen natürlich sorgfältig ausgespart. Wir haben das Stück lange als Kleiderschrank benutzt, das war auch die ursprüngliche Verwendung, wie man an einer Stangenvorrichtung noch erkennt. Später wurden dann innen Leisten für Ablagebretter angebracht, die ich aber wieder entfernt habe. Dieses Stück ist zwar weder das schönste noch das älteste, aber es ist sicher das interessanteste in unserem Besitz. Es hat rund 100 Jahre überdauert, ohne dass je jemand eine Hand dafür gerührt hätte - und doch erfüllt es seinen Zweck wie am ersten Tag.
Etwa 3 Jahre nach Fertigstellung dieses Stückes entstand eine neue Garderobe und der Schrank zog erneut um. Jetzt dient er als Büroschrank, wofür die Türen nochmal überarbeitet wurden und nun sauber schließen. Außerdem erhielt er einen Anstrich mit Wachsbeize im Antik-Kiefernton, der verschiedene Holztöne kaschiert und das Möbel wieder wie neu aussehen lässt. Ein vollständiges Original in diesem Zustand bringt heute locker zwischen 1.000 und 2.000 Euro im Antikhandel - ich kann immer noch nicht fassen, dass jemand sowas aus dem Fenster wirft. Dem unbekannten Entsorger jedenfalls besten Dank!